Poetry Slam: Trag die Pfütze zum Ozean

Zur Hülfe, die Welt passt nicht in den Kopf hinein!

… Wenn sich die Realität mal wieder weigert, von dir in Schubladen hineingezwängt zu werden, wenn der Kopfsalat scheppert, dein Verstand dich für vermurkst hält oder das mühsam errichtete Identitätsgebäude zusammenbricht – die Lösung ist ganz nah: Trag die Pfütze zum Ozean.

Ein Text, der mich manchmal auf Bühnen trägt – und immer erinnert. Dass unter dem Gedankengeplätscher das wahre Leben lauert. Durchatmen und die Lücke finden.

Trag die Pfütze zum Ozean

Alles endet und beginnt in der Stille.
Die da jetzt gerade in den Ohren ist, weil du für den Moment alles um dich herum vergessen hast. Das Quietschen der bremsenden Züge, die drängelnden Menschen im Beziehungsgefüge der Fremdheit, und all die anstrengenden Sorgen, die du dir sonst immer machst. Aber die Welt unter deinen Füßen hat gerade ihr Gewicht verloren, denn im Augenblick ist da nichts mehr als … diese reine Stille. Das erstaunliche Resultat der schmalen Bruchstelle zweier Gedanken, unter denen dein falscher Wille zusammengebrochen ist.

Doch sich zu ergeben, ist nicht dasselbe wie aufzugeben. Das weißt du jetzt und du lachst, weil die Stille, weil die Stille den Unterschied macht! Also machst du einen Schritt zurück. Und so ein Schritt zurück ist genausowenig immer ein Rückschritt, sondern manchmal exakt das Gegenteil, nämlich einer nach vorn bloß in die andere Richtung und damit vielleicht in die richtigere.

Nicht, dass Richtig und Falsch naturgegebene Gesetzmäßigkeiten wären, sie existieren natürlich nur in der Pfütze deines Verstandes, die nicht mehr als ein paar Regentropen umfasst, im Laufe der Zeit in der Schale deines Schädels gesammelt. Und in diesem Schädel existieren auch eine Menge, eine Menge hirnrissiger Konzepte, die dir das Leben manchmal schwerer machen, als du im Kopf aushalten kannst … DABEI HAST DU DIR DAS ALLES SO SCHÖN ZURECHTGELEGT!

Und hast ein Gedankengebäude errichtet, in dem du dich erkennen wolltest. Ein ganzes Haus hast du dir von deinem üppigen Denkvermögen gekauft. Vorne am Türschild, da kleben all die Namen, die du dir so gerne zuschreibst – und die sollen dir jetzt aber bitteschön auch irgendetwas über dich sagen, du hast dir schließlich Mühe gegeben!
Die Einrichtung wurde nach allen Kriterien der Logik strukturiert, beleuchtet von deinen ach so klugen Geistesblitzen. Die Regale hast du mit den Vorstellungen über dich selbst gefüllt und das Mobiliar erzählt die Geschichte deiner Vergangenheit: Tisch, Stuhl, Bett, Berufsabschluss, der Tod deiner Mutter, die Ex, alles hat seinen Platz in deinem Lebenslauf gefunden … aber manchmal, manchmal beginnst du diese völlig konstruierte Ordnung aus dem Innersten heraus zu hassen, räumst alles wieder um und es erhält eine neue, genauso zweifelhafte Bedeutung.

Die dir dann ganz kurz ein bisschen besser gefällt, aber es lässt dich niemals lange in Ruhe, denn wenn du deinen Verstand fragst, hast du immer falsch gewählt. So ist dein Haus niemals fertig, weil du nicht aufhören kannst, zu denken und eines Tages wachst du auf und musst erkennen: Dein Mindfuck hat dir einen Wolkenkratzer gebaut.
Der so hoch und so schief, so schief – also bitte, das hätte ja ein Zweitklässler besser machen können! – ist, dass du nichts anderes mehr, als dich von deinem eigenen Hochhaus zu stürzen.

Und später stehst du da am Bahnhof, übertrittst die emotionale Grenze, es ist nur eine weiße Linie an der Bahnsteigkante, und bist absolut überzeugt davon, dass es keinen logischeren nächsten Schritt geben könnte als diesen einen nach vorn über den Rand für erst einen Meter Falltiefe und danach weiter bis zur fragwürdigen Geborgenheit des schwarzen Nichts, damit diese Peinlichkeit, die dein Verstand ein vermurkstes Leben nennt, endgültig vernichtet ist.

Das war schon ein ziemlich schlechter Witz vom Leben, dir dieses Gehirn zu geben, wenn sich die Realität dann trotzdem weigert, in deine Schubladen hineinzupassen. Denn egal wie viele Denkvorgänge du auch generierst, der Verstand kriegt das Leben einfach nicht zu fassen. Er analysiert es zwar und zerlegt ein großes perfektes Ganzes in viele kleine Einzelteile, bis du am Ende scheinbar alleine auf der Welt stehst und dich fragst, wie das eigentlich funktionieren kann: dass du aufrecht über einen runden Erdball gehst, obwohl doch zu jedem Zeitpunkt gleichzeitig auch kopfüber ins Universum ragst!
Und so stellst du dir Fage um Frage, legst alles in die Waagschale deiner spärlich vorhandenen, aber sehr penetranten Vernunft, der irgendwann nichts mehr anderes mehr übrig scheint, als pssschht: Spring. Gib endlich auf und spring!

Und du hebst den Fuß für den letzten Schritt, spring, wiederholt dein Kopf immerzu, und irgendwo dazwischen, nur für einen Augenblick: Nichts. Als Stille.
Denn nach dem einen spring und vor dem nächsten, da entdeckst du eine Lücke. Für den kleinsten Teil einer Sekunde zwar, aber dennoch: Ein Gedankenloch.
Dein falscher Wille bricht, und … du ergibst du dich. Dem Leben.
Weil dein Verstand nicht mehr als eine Pfütze ist, nur ein bisschen zusammengetröpfelter Regen, den du dir in der Schale deines Schädels eingefangen hast, vom Ozean selbst abgeschnitten. Aber du bist es doch nicht, das merkst du schließlich, als du an dir herabsiehst und feststellst, dass du eben nicht nur einen Kopf besitzt, sondern auch Füße. Füße, die dich sogar bis zum Strand tragen würden, damit du dich kopfüber ins Meer stürzen kannst, um deine erbärmlich kleine Pfütze darin aufzulösen und dich selbst bis an den Grund sinken zu lassen. In die Stille deines immerfreien Bewusstseins.

Ja – alles endet und beginnt in der Stille, die da jetzt gerade in deinen Ohren ist, weil du für den Moment alles um dich herum vergessen hast. Du atmest einmal tief durch und blickst auf: Vor dir öffnet sich eine Türe. Und ohne nachzudenken, steigst du in eben jenen Zug, vor den du dich wenige Minuten zuvor noch werfen wolltest, einfach hinein. Denn egal in welche Richtung er fährt, wenn du nur lange genug weitergehst, gelangst du zum nächsten Ozean – alle Wege führen zum Wasser. Und wir mögen zwar manchmal glauben, wir wären nur zerbrechliche Gedankenkonstrukte an Land, aber in Wirklichkeit sind wir eben me(e)hr.

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