Kurzgeschichte: Fassadenrisse

Wer erinnert sich noch – an diese ganz normalen Alltagssituationen?

Seit Corona sind die rar geworden. Beim Einkaufen hält man Abstand und meidet den Kontakt zueinander. Mit Maske ist es schwieriger, ein Lächeln zu verschenken.
Aber mal ehrlich – war das denn vorher im Alltag so arg viel anders? Wie oft wurde ein Lächeln an den Kassierer verschenkt, wie viele Gespräche entstanden auf offener Straße zwischen Fremden, wie sehr interessierte man sich denn sonst so für die anderen?

Ich habe das Gefühl, unsere Normen begünstigen im Allgemeinen nicht allzu viel wahrhaftige Begegnung. Zum Glück entstehen manchmal trotzdem Risse in den Konventionen. Aber wie geht man damit um?
Das fragt sich die Protagonistin in der folgenden Kurzgeschichte, die mit der Penetranz eines Typen erst mal zu kämpfen hat.

Fassadenrisse in der Alltagskulisse

Drei Dinge bereiten mir in diesem Moment Unbehagen. Dass nur er und ich alleine in diesem Raum sind, damit fängt es schon mal an. Seit bestimmt fünf Minuten tigert er bereits durch die Gegend und sieht sich alles viel zu gründlich an. Aber ich gebe mir die größte Mühe seinem Blick nicht zu begegnen, der in regelmäßigen Abständen auch zu mir herüber schweift.
Das Zweite ist der Schweiß. Er quillt mir aus allen Poren, unter meinen Achseln sammeln sich Salzwasserpfützen im T-Shirtstoff. Jede verdammte Armbewegung erinnert mich daran.
Was mich am meisten nervt, ist jedoch, dass ich überhaupt hier sein muss. Leicht hilflos stehe ich herum und beobachte ihn aus dem Augenwinkel dabei, wie er jetzt halbwegs zielgerichtet auf etwas zugeht. Das ist ein gutes Zeichen. Eigentlich sollte ich wohl auch etwas tun, lasse es aber sein. Den Mann interessiert sowieso nicht, was ich mache. Der Mann lächelt herüber, ich sehe es, tu aber so, als hätte ich es nicht.
Langeweile drückt mir auf die Lider. Immer wieder fallen sie zu. Immer wieder zwinge ich sie auf. Meine Gedanken driften schon gen Nirvana, da höre ich ihn auf mich zukommen. Klonk, klonk, klonk. Er ist alt, der Mann.
»Dir ist hier drinnen auch zu heiß, was? Jaa, das ist auch wieder ganz schlimm dieses Jahr«, sucht er unmittelbar das Gespräch zu mir.
Hat der bei dem Wetter nichts Besseres zu tun, denke ich mit einem Anflug Abneigung. Er beobachtet mich, wie ich so dastehe, frontal dem Ventilator zugewandt, und meinen Schweißfilm über der Oberlippe trocknen lasse. Langsam drehe ich ihm mein Gesicht zu. Viel langsamer, als es die Höflichkeit gebieten würde. Seine Hosenträger sehen albern aus, finde ich.
»Guten Tag«, erwidere ich träge, im Tonfall reserviert. Beschwerden über die Hitze habe ich mir heute Vormittag schon zweihundert angehört.
»Du hast hier ja wenigstens einen Ventilator, immerhin etwas, hm?«, plappert der Mann einfach weiter, ohne sich von meiner lahmen Begrüßung einschüchtern zu lassen.
Mein Blick rutscht zur Seite an die Wand. Sieben Minuten nach vierzehn Uhr, ich gähne.
»Da haben Sie recht«, sage ich teilnahmslos und mein Blick rutscht zurück auf seine Hosenträger.
Als der Mann noch einen Schritt auf mich zumacht, weht der Hauch einer Alkoholfahne zu mir herüber. Unbeirrt fährt er fort: »Mich macht so ein Wetter auch immer ganz schläfrig. Wenn man so jung ist, verkraftet man das ja noch besser.« Ein letzter Schritt in meine Richtung.
Langsam werde ich unruhig. Wenn er den Mund öffnet, rieche ich den Alkohol ganz deutlich, das widert mich an. Immer ungeduldiger warte ich darauf, dass er zur Sache kommt. Aber stattdessen lehnt er gemächlich seinen Gehstock an die Theke, die einzig schützende Barriere zwischen uns.
»Aber Sommer, das ist ja trotzdem schön, nich? Wär’s verregnet, würden wir uns auch beschweren.«
»Ja«, antworte ich stumpf und strecke nachdrücklich meine Hand aus. Er soll so schnell wie möglich von hier verschwinden. Dann hab ich wieder meine Ruhe und kann alleine weiter warten, bis die Schicht endlich vorbei ist. Aber der Mann gibt nicht auf. Aus dem Fenster deutend, sagt er beschwingt: »Ist ja auch eigentlich schön, dass wir endlich mal wieder ein Jahr haben, in dem die Sonne auch ordentlich scheint. Das ist doch schön, finden Sie nicht?« Er lacht rau und ein bisschen heiser, und als ich nicht antworte, fragt er: »Mögen Sie den Sommer?«
Diese Vehemenz.
Ein Lächeln, es entwischt mir.
Ich kann es weder verhindern, noch rechtzeitig festhalten. Unwillkürlich schiebt es sich von der einen Wangenseite zur anderen. Dann endlich hebe ich den Kopf und erwidere seinen Blick, finde zwei eisblaue Augen. Unter furchendurchzogener Haut ruhen sie tief in ihren Höhlen, funkeln lebendig, und in dem Gesicht des Mannes breitet sich ein Strahlen aus. Mein Lächeln kommt reflektiert wieder bei mir an, wahrhaftiger noch, als es mir entlaufen ist.
Auf den Verkaufstresen legt er nun einen Schokoriegel, stellt ein Bier dazu. Wir stehen uns gegenüber, zwei einander völlig fremde Menschen, und sind uns trotzdem für einen Augenblick lang vertraut in unseren Absichten. Das formale Spiel beginnt.
Die Plastikverpackung des Schokoriegels liegt glatt in meiner Hand. Sie ist noch warm von seiner Berührung. Aber plötzlich habe ich keine Eile mehr, den Barcode zu suchen. Der Scanner leuchtet rot auf, gemeinsam warten wir das Piepsen ab. Dem Vorgang liegt eine trostspendende Einfachheit zugrunde. Mit ruhigem Griff drehe ich die Bierflasche solange bis das Etikett in meine Richtung zeigt. Aufleuchten, Piepsen. Wir sehen uns an, wiegen uns gegenseitig in der Sicherheit unserer vorskizzierten Begegnung.
Ich werfe einen Blick auf das Kassendisplay, während er in der Hosentasche nach seiner Geldbörse kramt. Er denkt, er hätte damit gleich legal zwei neue Besitztümer erworben; mein Arbeitgeber denkt, er hätte Ware verkauft, und ich kriege dafür einen zu niedrigen Stundenlohn.
»Zwei Euro zwanzig«, sage ich und kann den monotonen Stimmfall nicht unterdrücken, obwohl ich es diesmal sogar versuche.
»Ach, das ist ja lustig!«, erwidert der Mann erheitert, »zwei Euro zwanzig.«
Nicht, wenn man den ganzen Tag hier steht, denke ich, sage aber: »Ja, da haben Sie recht!«
Er schüttet seinen Geldbeutel voll kupferner und goldfarbener Münzen auf dem Tresen aus, sieht sich um und meint: »Is ja gerade keiner hier, da kann ichs Ihnen auch klein geben, was?«
»Wie Sie möchten.«
Ich klaube mir die richtigen Münzen zusammen und greife wie selbstverständlich mitten in sein Häufchen Geld. Das wird gesellschaftlich so einwandfrei akzeptiert, der Kontext gibt den Rahmen vor.
Aber in einer Parallelwelt frage ich ihn: »Du, sag mal … Bist du sicher, dass du dafür jetzt Geld ausgeben möchtest? Hier ist sowieso alles super überteuert und nach Alkohol riechst du auch schon. Was machst du überhaupt an einem Dienstag im Sommer hier? Geht’ s dir gut? Warte. Hier, ich geb dir lieber meinen Apfel, vergiss den Schokoriegel, vergiss das Bier.«
Mein Blick fällt auf den runden Bauch, den er vor sich herträgt. Für den wäre das vermutlich auch die bessere Alternative. Dennoch ist es mitunter das Schlimmste, das ich jetzt zu ihm sagen könnte. Es ist zur allgemeingültigen Wahrheit geworden, den materiellen Gewinn zum höchsten Ziel anzuerkennen. So erscheint es für jeden sinnvoll hier, dass eine Tankstelle Zucker, Alkohol und Zigaretten verkaufen möchte. Egal an wen. Egal, was es bedeutet.
Seine Hände zittern, als er versucht die Geldbörse wieder in die Tasche zu schieben. Immer wieder greift er daneben und schiebt ins Leere.
»Ach herrje!«, ruft der Mann ein wenig unbeholfen aus. In mir erwacht der Impuls, ihm zu helfen. Ich unterdrücke ihn. Zwischen uns stehen ein Ladentresen und fünfzig gesellschaftliche Grenzen. Unser gemeinsamer Kassiervorgang umfasst weder einen guten Ratschlag noch Hilfe bei der Geldbeutelverstauung. Ich öffne die Kasse und sortiere stattdessen Münzen ein. Mir ist plötzlich unwohl.
Und während er die Hosentasche endlich trifft, sehe ich aus dem Fenster. Die Straßen sind wie leergefegt, weit und breit keine Menschenseele. Wahrscheinlich liegt gerade die gesamte Menschheit außer ihm und mir auf der Wiese im Freibad, mein Chef inklusive. Die Uhr sagt zweieinhalb Stunden. Zweieinhalb lange Stunden noch bis Schichtende.
»Na, dann wünsche ich Ihnen mal weiterhin einen guten Tag!«, verabschiedet sich der Mann schneller, als ich erwartet habe, und mein Magen fällt eine Stufe ins Leere. Das reflexartige ›Auf Wiedersehen‹ wartet sofort drängend in meinen Lungen darauf, von mir ausgesprochen zu werden. Es sind die letzten zwei Worte, die zwischen mir und diesem Menschen noch stehen. Außer, denke ich und der Mann hat sich bereits umgedreht, ist fast schon zur Türe raus, außer natürlich, ich würde etwas anderes sagen.

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