Poetry Slam: Iss nicht

Wer erdrückt dich mit seinen Forderungen?

Das Gewicht der Erwartungen: unsichtbar, aber da. Sie spürt es. Jede Minute, jeden Tag trägt sie es. Die Verwandten, die Freunde, die Fremden, die Gesellschaft: Mensch Mädel, nu mach doch was aus dir! Endlich! Und iss mal was zwischendurch.

Ein Slamtext über Magersucht, der mehr fürs Hören als fürs Lesen gemacht ist. Fürs Mitgehen, Mitverstehen, Nachvollziehen – warum manchmal eine Tasse schwarzer Kaffee mit keinem Stück Kuchen die einzig sinnvolle Überlebensmaßnahme zu sein scheint.

Iss nicht.

Sie hat Angst, der Atem geht flach. Da ist einfach nicht genug Platz!
Denn: Die ganze Familie ist da.
Opas, Neffen, Eltern, alle. Drei Generationen in einem Raum.
Jemand hat Geburtstag, aber irgendeiner hat ja immer Geburtstag!
Sie ist es nicht, aber sie ermahnt sich:
Iss nicht, denn vergiss nicht, verstecken is nicht, wenn du das Essen nicht vergisst.

Ausversehen natürlich, ich hatte viel um die Ohren, ja, ich werds später tun,
ne, ich hab vorhin schon, danke, oh Kuchen, lieb gemeint, aber mir ist heute nicht so gut,
ich bleib bei dem Kaffee hier, schwarz und zuckerfrei … sein.

Ja, das will sie. Freisein von all den Worten.

Bist du sicher, Kind? Die Tante. Kind. Dabei ist sie sechsundzwanzig.
Nur ein Stück Kuchen, iss Kind, iss, du bist so dürr geworden, aus dir muss doch noch was werden, du isst zu wenig, lügt die Tante.

Denn der korrekte Satz wäre doch: Du bist viel zu wenig.
Zu wenig außergewöhnlich und zu wenig verheiratet … zu wenig Anwältin, Ärztin
oder zumindest irgendein Studium.
Oder halt Mutter.
Oder wenigstens lustig.
Damit die Verwandtschaft beim Kuchenessen was zum Lachen hat.
Aber das hat sie nie geschafft.

Und sie ertränkt den Blick im schwarzen Kaffee, es ist ihr unangenehm.
All die Fragen.
Was machst du, was hast du, wer bist du?
All die Fragen, die keine Fragen sind, sondern eure Lebensentwürfe für sie.
Und ihr verringert sie auf Status, Aussehen und Lustigkeit.
Also verringert sie sich auch.
Weil: Achte auf die Linie, sagen sie.
Die gerade Linie im Lebenslauf, wohlgeformt und lückenlos.
Und mach eine gute Figur, sagen sie.
Da draußen, in der Welt, im Beruf, im Bett und ja, auch beim Familienfest.
Bitter ist er, der Kaffee, und sie atmet nicht, sie ermahnt sich:

Iss nicht! Weil Leben ist nicht. Es geht hier schließlich nicht um dich.
Sondern höchstens darum, dass aus dir mal noch was wird.
Weil du bist ja anscheinend nicht.
Vor allem nicht genug.
Also iss nicht, sondern vergiss dich.
Dein Leben gehört dir nicht. Du bist doch nur
eine Figur.
Auf einem Gesellschaftsschachbrett.

Aber verstecken ist nicht, wenn du eine wandelnde Fleischmasse bist, also los, mach es weg.
Jeder sieht dich sonst. Und deine Fehler. Deshalb, versteck dich, denn

Umrisse verschwimmen
wenn man seine Persönlichkeit verhüllt in weite Klamotten, die nichts betonen,
vor allem die eigene Meinung nicht.

Und ihre Umrisse, sie winden sich
klammheimlich unter euren Vorstellungen davon.

Ihre Umrisse, die schwinden
unter dem Druck der Erwartung.

Ihre Umrisse verschwinden
Umrisse verschwimmen
vor ihren Augen.
Alles schwarz. Wie der Kaffee.

Skandal! Das sechsundzwanzigjährige Kind ist umgekippt,
mit der stimmt was nicht, sie wussten es alle, ja,
die muss mehr essen, das ist doch krank,
so wenig zu essen, das ist doch nicht normal!

Gepresstes Einatmen, aufwachen.
Nein, macht nichts.
Umfallen kenn ich, passiert öfters mal, nein es ist, nichts,
ich will immer noch keinen Kuchen, wirklich! Lasst mich! Endlich! In Ruhe.
Ihr erdrückt mich.

Es geht nämlich nicht um ihre Körperform, sondern um eure.
Form, in die ihr sie pressen wollt.
Die Norm, für die man ihr Anerkennung zollt, aber nur wenn sie sie erfüllt.
Die Mägen eurer Wünsche.
Ihrer bleibt leer.
Denn ihr wollt immer mehr von ihr und ihr Magen ist leer.

Der Körper sagt hungrig, das Herz will leben und sie lebt hungrig,
weil ihr Verstand das Außen und das Innen nicht miteinander vereinen kann.
Aber es geht nicht ums Essen,
die Frage ist nicht, ob sie nicht mehr gegessen hat –
sondern, ob sie mehr sein darf.
Als nur eine Figur.

Ob sie sein darf, wie es sich für sie richtig anfühlt.
Wenn sie aufblüht, weil sie sich um ihre eigenen Wünsche bemüht,
wenn sie die lebenshungrigen Lungenflügel ausbreitet,
ihre Umrisse ausweitet,
wenn sie ihren Körper liebevoll bewohnt.
Und wenn sie laut betont, was ihr wirklich wichtig ist,
dann wäre es vielleicht auch okay,
wenn sie mal wieder etwas isst.


Bis zum Hals Roman Bulimie Cover

Roman über Magersucht & Bulimie

Magersucht und Bulimie zeigen sich nur in ihren Symptomen nach außen hin. Aber das ist meist nicht das, worum es eigentlich geht: Essstörungen weisen auf innerseelische Konflikte hin. Im Roman „Bis zum Hals“ wird das Thema aus der Sicht der sechzehnjährigen Paula behandelt, die hungert, um sich aufzulösen.

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